Bei Schlechtwetter bleiben Eidechsen zu Hause
Kapitel 1: Der will nur spielen
Zum Glück gibt es genug Tierärzte, die gesunde Hunde einschläfern.
Vielleicht war er ja krank.
Und wenn schon.
Zumindest war er ziemlich beleibt.
Du kannst ruhig die Wahrheit sagen, sagt Nora und wickelt ihren Schal vom Hals, ein warmer Tag, viel zu schön zum Töten.
Lasset Beleibte um mich sein – wer hat das gesagt?, fragt die Füchsin.
Nora denkt nach. Am Himmel schiebt der Wind dicke Wolken vorüber, die eine konkrete Form hätten, wäre sie zwanzig Jahre jünger. Der Wind bleibt in ihren Haaren hängen. Sie schüttelt ihren Kopf, er sucht sich eine andere Frisur, um sich hineinzusetzen und ein Stück weit getragen zu werden.
Jesus?
Im Zweifelsfall Jesus, lacht die Füchsin.
Als spielte er Verstecken, war der Hund unter dem Küchentisch gesessen. Kein Geräusch. Dabei hatten sie ihn alle bereits gesehen in seinem Versteck. Er hatte bestimmt Hunger, denkt Nora, gebellt hatte er dennoch nicht, als sie die Wohnung betraten. Nachmittag, die Vorhänge geschlossen, die Hausbesorgerin hatte die Lichter angeschaltet, die Lichter waren zu schwach, um Tageslicht zu imitieren, die Wohnung war dem Tag voraus und die Küchenuhr log. Der Geruch war Nora vertraut gewesen. Die Mutter hatte ihn mitübersiedelt. Ihn mit dem Staubsauger aus der alten Wohnung gesaugt, in einen Umzugskarton geblasen, in die Stadt gefahren, in der neuen Wohnung aufgeschnitten und den Geruch mit einem Fächer gleichmäßig verteilt. Die alte Wohnung hatte eine Wanne gehabt, die neue eine Duschtasse in der Küche.
In der Küche, wiederholt Nora, als die Füchsin sagt, dass die Wohnung doch ganz nett sei.
Auf dem Tisch waren staubige Kunstblumen gestanden, die dem daruntersitzenden Hund aus dem Kopf gewachsen waren, wenn Nora die Augen zu einem Schlitz verkleinerte. Ein Indianerhäuptling mit lockigen Ohren und traurigem Blick.
Wir hätten ihn ins Tierheim bringen sollen, sagt Nora und sieht den Wind im Haar der Füchsin.
Ein dermaßen fetter Hund hätte doch keine Chance, sagt die Füchsin, dicke Kinder will auch niemand.
Ich habe ihr Kind umgebracht?
Du lebst doch noch, sagt die Füchsin, und Haustiere werden überbewertet.
In der Praxis hatte es nach Zahnarzt gerochen. Die Tierärztin hatte den Preis genannt und gefragt, ob sie dabei sein wollten. Kurz hatte Nora überlegt.
Die drei häufigsten Sprüche von Hundebesitzern?, fragt die Füchsin und wartet Noras Antwort gar nicht erst ab: Erstens, der tut nix. Zweitens, der will nur spielen.
Und drittens?, fragt Nora doch.
Also das hat er noch nie gemacht, ruft die Füchsin aus und lacht laut über sich selbst.
Im Wartezimmer waren vier Hunde am Boden gelegen, zwei hatten unter den Stuhl gepasst, zwei waren vor den Füßen gelegen, einer davon auf den Schuhen seines Frauchens, ihre Füße amputiert von seinem Fell.
Nora spürt, wie ihr etwas den Hals zu verschließen beginnt: Ich habe das Gefühl, die ganze Stadt hat einen Hund, sagt sie und gibt sich Mühe, Hunde nicht zu mögen.
Die Wahrheit ist, sagt die Füchsin, das häufigste Haustier ist der Fisch.
Das haben wir nicht, sagt Nora und gibt sich Mühe, seinem Blick standzuhalten. Antons Augen drücken sich aus dem Gesicht, der Frosch sieht sie erstaunt an.
Was hätten wir denn tun sollen?, fragt Nora und möchte lieber keine Antwort. Tierheim, Internetanzeige, den Hund aufnehmen, so lange wie nötig.
Nora will Antons Augen in seinen Kopf zurückdrücken, mit den Fingernägeln voraus. Er geht drei Schritte durch den Raum und legt seine Arme um sie, womit er doch noch alles richtig macht. Sie riecht sein Hemd. Sein Hemd riecht nach seiner Tochter, seine Tochter nach seiner Ex-Frau. Das bildet sie sich ein, damit es wehtut. Nora löst sich aus dem Griff und sieht auf ihre Finger. Der Nagel des Ringfingers ist eingerissen, der kümmerliche Rest stößt in die umliegende Haut vor. Land einnehmen, eine Fahne hineinstecken, für immer bleiben.
Und der Hund war ruhig?, fragt er.
Kein Geräusch, sagt Nora.
Als Zivi wurde ich einmal zu einer Frau gerufen. Wir konnten nicht zu ihr durch, weil der Hund vor ihr saß und bellte und die Zähne fletschte, sobald einer von uns näher kam. Da hat der Fahrer eine Decke genommen und über den Hund geworfen.
Gemein, sagt Nora.
Sie war tot, sagt Anton. Und einmal sind wir zu einer Gebärenden nach Hause gekommen. Das Baby war schon da. Sie hat sich dafür in die Badewanne gelegt.
Und wie passt das jetzt hierher?, will Nora wissen.
Gar nicht, sagt Anton, aber es muss furchtbar sein, bei der ersten Geburt, nicht zu wissen, was jetzt alles passieren wird mit dir.
Das findet Nora auch.
Und Maresa will einen Hamster, sagt Anton.
Nora biegt mit dem Daumennagel die Ecken des zu kurzen Nagels in die Höhe. Der Finger daneben beobachtet die Prozedur.
Und?
Der Frosch zieht die Lider über die Augen und schüttelt den Kopf.
Hör nicht auf ihn, sagt der Baum.
Hinter Noras Spiegelbild sitzen A-Würmchen und B-Würmchen und genügen sich selbst, das findet Nora beruhigend. Die schwarzbraunen kleinen Schlangen, die vom Maul weg ins Wasser schwänzeln, glänzen und schlagen Wellen in Zeitlupe. Sie sind dünner als letztes Mal. Die Füchsin sagt, es sind sensible Tiere, fürs Fressen brauchen sie Ruhe und Zeit.
Wann ist die nächste Fütterung?, fragt Nora.
Willst du dabei sein?, fragt der Baum.
Warum übergießt du sie nicht endlich mit Spiritus?, fragt Nora.
Bin ich ein Unmensch?, fragt der Baum und wechselt in den Storch.
Der Storch steht der Füchsin, findet Nora, der Storch hat Eleganz, die Füchsin auch.
Was war noch mal die Alternative? Zerschneiden?
Einfrieren, korrigiert die Füchsin, mindestens zwölf Stunden, minus achtzehn Grad.
Ist doch okay, sagt Nora, erfrieren ist kein schlechter Tod, und klopft an die Scheibe wie an ein Fenster in ein Haus hinein, und deine Knie sind doch wieder in Ordnung, oder?
Die Füchsin antwortet mit der Krähe. Nora stellt sich vor die Terrassentür, die offen steht, damit sie nicht auf und davon fliegt.
Wenn dir kalt ist, bitte schließen, drückt die Krähe hervor, ihr Kopf rot wie ihre Haare.
Der Straßenlärm im Zimmer verstummt. Mit einem Schnauben richtet sich die Füchsin auf und dehnt sich in den Hund. Ihre Handflächen drückt sie ihrem Freund ins Gesicht und verbeult seine Wangen. Seitdem der Vater der Füchsin das Internet entdeckt hat, treffen immer neue und absurdere Pakete bei ihnen ein. Zuletzt eine personifizierte Yogamatte. Ein Foto von Hannes ist auf die Matte gedruckt, lebensgroß, die Füchsin turnt auf seinen Muskeln, wenn sie Yoga macht.
Nimmst du die auch im Studio?, fragt Nora.
Die Füchsin verneint und fragt: Tee?, während sie sich aus dem Hund in den Raum hineinstreckt.
Ich wollte es, ich wollte, dass er stirbt, sagt Nora.
Yogitee sagt: Große Persönlichkeiten müssen durch große Prüfungen gehen.
Ich weiß, sagt die Füchsin, und jetzt musst du loslassen.
Nach dem Yoga spricht die Füchsin gerne weich und berührt alles mit samtener Hand. Der Samt liegt warm und sanft auf Noras Wange. Es wäre eine gute Ärztin aus ihr geworden, denkt Nora. Sie mag, wie die Füchsin sie anfasst.
Sie mag nicht, wie die Füchsin sie anfasst. Sie beugt sich zur Teekanne und schenkt nach.
Wenn du sie fütterst, ruf mich an, klingt es heiter aus ihrem Mund.
Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, geht die Füchsin darauf ein, Blutegel sind nichts für schwache Nerven.
Nora denkt, wenn jemand A-Würmchen heißt, kann es so schlimm nicht werden, und für B-Würmchen lässt sie dasselbe gelten.
Kannst du sie voneinander unterscheiden?, fragt Nora und die Füchsin kennt ihre Haustiere. Sie blickt ins Aquarium, zeigt mit dem Finger auf den ersten: A, und auf den zweiten: B.
Und was ist das?, will Nora wissen und zeigt auf etwas, das im Wasser schwimmt und aussieht wie – Haut, kann die Füchsin Noras Gedanken lesen, Blutegel müssen sich regelmäßig häuten.
Wie Schlangen?
Ja, sagt die Füchsin, wie Schlangen, aber das Häuten kann auch mal schiefgehen.
Und dann?
Verwickeln sie sich darin und sterben.
Hat sich der Dritte verwickelt?, fragt Nora.
Nein, sagt die Füchsin, der ist von den anderen gefressen worden.
Seit der gebrochenen Hand war Nora nicht mehr in einem Krankenhaus gewesen. Ein Bruch, wie ihn sonst nur Boxer haben, hatte der Notfallarzt gesagt, Mittelhandknochen, und anerkennend durch die Zähne gepfiffen. Nora hatte sich gefallen in dieser Rolle, hatte ihre Ellbogen ausgefahren zum Beweis, als Boxerin riskiert sie eben was.
Soll ich mitkommen?, fragt Anton.
In seiner Hand die ihre, kalt und nass, sein Daumen verreibt den Schweiß in ihrer Handfläche. Eine Krankenschwester lächelt ihnen zu, als sie das Zimmer betreten, ihr Mund sitzt schief, bleibt auf der einen Seite ihres Gesichts hängen. Nora gefällt das Lächeln, es ist ehrlich, will nicht schöner sein, als es ist, und die Stimme passend dazu, Alt. Sie schlägt die Bettdecke glatt, streicht über eine fahle Stirn, kommt auf Nora zu, streckt ihr die Hand entgegen.
Wir werden uns nun öfter sehen, sagt sie, weder traurig noch auf sonst eine Art als Regieanweisung, denkt Nora und weiß nicht, was sie sagen soll, denn außerdem schiebt die Krankenschwester dieser Information ein Schätzchen hinterher, wir werden uns nun öfter sehen, Schätzchen, und wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie nach mir.
Nora liest R. Kovacs auf dem kleinen Schild, das ihr von der Oberweite entgegengestreckt wird. Es ist eine mächtige Oberweite, Nora weicht einen Schritt zurück. Sie blickt zu Anton, doch der hat bloß Augen für das Bett, an dem eine Beatmungsmaschine laut Luft holt.
Er setzt sich auf den Stuhl neben einer Tür. Die Tür steht offen und der Raum mit Waschbecken, Dusche und Toilettenschüssel scheint so winzig, dass es nur eine Puppenstube sein kann, ein Badezimmer nicht. Nora macht ebenso winzige Schritte hin zum Bett. Der Weg ist kilometerlang. Und es kann gar nicht weit genug sein, ginge es nach ihr, doch das Bett kommt trotzdem näher und wird größer und mit ihm die Gestalt, die unter einer dünnen weißen Decke liegt und so übertrieben laut atmet, dass es Nora unangenehm ist.
Sie ist so klein, sagt sie.
Was?, fragt Anton.
Nora räuspert sich.
Sie liegt da, denkt sie, und ist klein. Die Hände der Mutter waren immer klein, aber die Mutter war nie klein, die Mutter war riesengroß und schnell und unberechenbar, hatte hingehauen mit ihren kleinen Händen wie mit Pranken. Sie liegt vor ihr, aber sie sieht sie nicht, sie kann sie nicht erkennen.
Ihre Mutter hatte einen Schlagarm, die da hat Ärmchen und eingefallene Wangen. Nora hätte ihr in die Augen sehen müssen, um sie wiederzuerkennen, die Augen sind geschlossen. Das ist nicht ihre Mutter. Doch sie hat eine Narbe auf ihrer Stirn, sie ist verblasst, aber noch da. Und plötzlich wird sie doch zu ihrer Mutter. Nora erkennt sie an der Narbe auf ihrer Stirn.
Ist das notwendig?, fragt Anton, als Nora sich am Flur-Automaten Zigaretten drückt. Sie hatte hinter einem Mann in Bademantel gestanden, dem sie ein Loch in den Kopf starrte, er drückte unter Schmerzen seine Zigarettenmarke, dann ging er, um seinen Hinterkopf verarzten zu lassen.
Ja, sagt Nora und wickelt das Zellophan von der Packung, ihre Finger sind ungeschickt, sie hören nicht auf das Kommando, das sie gibt. Anton hebt das Zellophan vom Boden auf und wirft es in den nächsten Mülleimer.
So stellt Nora sich tot vor, Koma sieht aus wie tot, nur das Beatmungsgerät und die Maschinen mit ihrem Gurgeln und Piepen unterscheiden sich davon.
Was ist passiert?, hatte sie gefragt und der Arzt hatte gesagt: Eine unmenschliche Menge Insulin.
Unmenschlich, ja, das passt zur Mutter.
Kapitel 3: Trau keiner Revolution, in der Olympe de Gouges nicht vorkommt
Das ist wie bei meiner Großmutter, sagt Vera, das war eine Matrone, und als der Krebs sie geholt hat, ist sie auf meine Größe geschrumpft, und als er fertig war mit ihr, war sie ein greises Kind, kleiner als ich.
Der Krebs hat sie von innen aufgefressen, sagt die Füchsin nüchtern, sie ist in sich zusammengefallen.
Ich dachte, deine Großmutter lebt noch, sagt Ruth.
Und Vera sagt: Die brasilianische lebt, die deutsche ist tot.
Manchmal denke ich, alle haben Krebs, sagt Ruth, während sie etwas Grün nachlegt.
Stimmt auch, sagt die Füchsin.
Nimm dir noch Erbsen, Ruth, sagt Vera und kleckert Reis auf Noras Teller.
Kochen kann Vera nicht, aber Nora mag, dass sie es immer aufs Neue versucht.
Kurzes Schweigen. Schmatzen. Nora blickt vom Filet hoch, das ihr trocken in die Augen staubt. Es ist nicht die Katze, die auf dem Sofa schläft, es ist Ruth. Ruth isst gerne mit offenem Mund, obwohl sie es besser könnte. Nora bewundert ihre lässige Art, sie selbst hat sich Tischmanieren auf ihre Stirn geschrieben, auf dass alle sie sehen. Seit der ersten Weihnachtsfeier im Kaufhaus Zappl. Die alte Zappl hatte in die leere Gabel gebissen, als sie Nora dabei beobachtete, alles falsch zu machen, und der alte Zappl hatte gesagt, ihm komme das viele Besteck auch reichlich übertrieben vor, hattte alles in eine Reihe gelegt, durchgezählt, und es war eine absurd hohe Zahl.
Also ich will im Schlaf sterben, sagt Vera, vollkommen friedlich und ruhig.
Das wollen alle, sagt die Füchsin, aber die Chancen stehen schlecht.
Echt?
Behaupte ich, sagt die Füchsin, schiebt sich das letzte Stück des Filets in den Mund und spült es mit Sekt hinunter.
Den anderen schenkt Vera noch ein Achtel ein. Noras Kopf spürt bereits den Wein.
Und du, Nora?
Sobald sie es auch spürt, wird sie gehen.
Weiß nicht, sagt Nora und dreht das Tischkärtchen in ihrer Hand. Von Veras gleichmäßiger, leserlicher Handschrift könnte Ruth noch was lernen. Nach Noras Namen hat Vera ein Kätzchen gezeichnet, eine kleine Halbkugel mit zwei dreieckigen Öhrchen auf einer großen Halbkugel mit kurvigem Schweif.
Wenn ich tot bin, sagt die Füchsin, legt mich auf den Bauch, auf dem Rücken kann ich nicht schlafen.
Und wie wirst du gestorben sein?, fragt Ruth.
Ich stelle mir mich im Meer vor. Ich glaube, ertrinken ist kein schöner Tod, aber der Gedanke im Meer zu treiben, rundherum Schwärme von leuchtenden Fischen, den finde ich schön.
Seltsam ist die Vorliebe der Füchsin für Wasser, denkt Nora, ein Wald stünde ihr besser.
Und du, Ruth?
Keine Ahnung.
Ich weiß es, sagt Vera, sie wird mit dem Auto auf einem Gleis hängenbleiben und ein Zug wird das Auto rammen. Ich meine, so wie Ruth Auto fährt.
Alle lachen, ganz besonders Nora, die bereits auf ihren Tod wartet, und da kommt er auch schon: Und Nora, sagt Vera, wird von einem Fremden in der Nacht erstochen werden und dann zerstückelt. Und ins Meer geworfen, präzisiert die Füchsin, und von den Fischen aufgefressen.
In welches Meer?, will Ruth es genauer wissen.
Dann eben in einen Fluss, schlägt die Füchsin stattdessen vor.
Das muss dann aber der Amazonas sein, wirft Ruth ein.
Danke, ganz lieb, sagt Nora und denkt, ihre Freundinnen kennen sie besser, als es ihr recht ist.
Rekeln, ausstrecken, sich länger rekeln. Das Bett ist warm wie ein Nest. Das Zimmer ist schwarz. Augen schärfen. Das Zimmer bleibt schwarz.
Schläfst du?
Sie streichelt sich durch seinen Bart zu seinem Mund vor.
Ja.
Sag, wie würdest du gerne sterben wollen?
Wie meinen?, fragt er wie ein alter Herr, manchmal redet er wie einer, Buchhalter in Schnürlsamtsakko von Beruf.
Dabei trägt er gerne Jeans, ist Ende dreißig und hat Haare wie Frank Zappa, Frank Zappa mit Dutt.
Sie schnaubt.
Wie würdest du sterben wollen, wenn du es dir aussuchen könntest?
Gar nicht.
Aber wenn du müsstest.
Nicht bei einem Flugzeugabsturz.
Er dreht sich zu ihr.
Und du?, fragt er in ihre Hand hinein.
Es wird Furchtsaft geben. Wenn sie in die Küche geht, wird Anton am Entsafter stehen und Obst durchdrücken, das ist sein neuer Spleen und sie kann ihn hören. Und dann hört sie noch etwas und sie wünschte, sie wäre taub. Der Polster presst sich auf Noras Kopf und will sie ersticken, aber sich selbst ersticken funktioniert nur mit einem Plastikbeutel und Disziplin. Nora hat beides nicht zur Hand. Sie sieht auf die Uhr, die Uhr sagt, es ist Zeit zum Aufstehen, aber die Uhr täuscht sich, sie dreht sich wieder um und wickelt sich in die Decke.
Bist du schon wach?, flüstert er zur Tür herein, im Badezimmer rinnt der Wasserhahn.
Nora schließt die Augen und simuliert Geräusche mit der Nase. Anton behauptet gern, sie schnarche. Es wird wohl stimmen, denn er glaubt ihr den Schlaf und macht kehrt. Schnelle leichte Schritte werden von seinen schweren langen eingeholt. Laute Worte, ein Zischen, eine gedämpfte Unterhaltung in der Garderobe, dann die Tür, der Wecker, dann hört Nora die eigene Stimme, und die ruft: Schnauze! Fingerspitzen trommeln ihren Brustkorb wach, eine geschickte Rolle wirft sie aus dem Bett auf ihre nackten Füße, die losgehen und sich zum Fenster stellen. Nora blickt durch die Müdigkeit hindurch auf die Straße hinunter. Charlotte raucht ans Auto gelehnt, das dieselbe Farbe hat wie ihr Kussmund, Nora hat sie noch nie ohne gesehen, es scheint ihr wichtig zu sein auf ihre Lippen zu verweisen, ihre Lippen sind wirklich schön, und sie wären es auch ohne Farbe. Als Maresa sie umarmt, tritt Charlotte die Zigarette aus. Dann der flüchtige Kuss für Anton und Nora geht in die Küche. Apfel, Karotte – Sellerie?
Er war gekommen vor ein paar Tagen, hatte ein Bein auf den Stuhl gestellt, wie ein Entdecker aus einer früheren Zeit, und geprahlt: Ich habe mir einen Entsafter gekauft und keine Angst, es wird ab heute Furchtsaft geben! Seitdem vergeht kein Morgen ohne frisch gepressten Saft. Die Oberfläche schäumt, das ist die Karotte. Sie kann es nicht leiden, wenn sie aussehen wie eine Familie. Sie sehen aus wie eine Familie, die Probleme hat, sie aber noch rechtzeitig in den Griff bekommen könnte. Anton hatte wie ein Romancier geantwortet, als sie ihn nach ihr gefragt hatte: Nichts ist kälter als eine kaputte Liebe.
Nora will ihm glauben. Doch dass Charlotte ihn immer auf die Wange küsst, ist ihr noch nicht kalt genug. Sie nimmt das schäumende Saftglas und stellt es auf den geschlossenen Klodeckel im Badezimmer. Aus dem Duschkopf prasselt Wasser, das zu heiß ist, sie schrubbt ihre Haut mit dem Abwaschschwamm, bis es einfärbig in den Abfluss rinnt. Anton sagt immer, er mag sie, aber sie ist zu jung für Altersflecken, sie mag sie nicht. Nach den Hänseleien in der Schule war sie nicht nach Hause gegangen, um sich trösten zu lassen, sie hatte es mit sich selbst ausgemacht.
Lass mich doch deine Sommersprossen mögen, hatte Anton gesagt, auch die Akkumulationen, und Nora hatte gelacht, obwohl Charlotte eine Haut hat aus Porzellan.
Nora lacht oft. Selbst wenn sie es ganz anders meint. Die Kaiserin hatte gesagt, sie werde mit ihr weinen üben. Nora lernt schnell, aber mit ihren Augen sollte sie bald zu einem Arzt. Nora ist der Junge aus dem Märchen, der sich nicht fürchten kann. Nur ohne die Furcht. Sie wartet, bis ihre Schultern zu bluten aufhören, und trinkt den Saft, der eine verwandte Farbe hat. Sie denkt an Charlottes Mund und ihr rotes Cabrio. Dann nimmt sie die Taschentücher von den Schultern und schlüpft in die Kleidung, die sie aus dem Beutel nimmt. Seit über einem halben Jahr schläft sie bei ihm und sie hat noch keinen Platz in seinem Schrank bekommen. Und er hat sich einen Entsafter gekauft. Sie weiß nicht, was das zu bedeuten hat, aber sie hofft, nur Gutes.
Er schlägt auf ihn ein und alle gaffen, Nora auch, er tut ihr leid. Sie möchte hingehen und ihn bitten, er möge aufhören damit. Das überrascht sie, denn vor Kampfhunden hat sie gelernt Angst zu haben. Sie traut sich aber ohnehin nicht, denn sie hat Angst vor dem Mann, der betrunken wirkt, und nicht vor dem Hund, der bemitleidenswert ist mit diesem Herrchen, dem er trotzdem treu ergeben ist. Die U-Bahn-Aufsicht wird das schon richten, denkt sie, um sich herauszuhalten, und geht weiter. Ein Mädchen, sieben Jahre alt, fährt auf der benachbarten Rolltreppe hoch und wahrscheinlich ins Lycée. Die Altersangabe ist geschätzt, kommt aber hin. Sie trägt die Schminke einer Piratin: Totenköpfe auf frisch gebräunten Wangen. In welchem Weltmeer war die denn unterwegs, mit den Eltern auf den Bahamas in den Semesterferien? Über ihren Wangen leuchten blaue Augen Himmelstern, und U-Bahn-Aufsicht hin oder her, hätte sie längere Nägel, Nora würde ihr das Gesicht zerkratzen. Im Grunde ist der Tag gelaufen. Die Welt ist schlecht und aus Notwehr lebt sie in ihrer eigenen, wenn es sich einrichten lässt. Aber Arbeitsmarktservice, Bewerbungsgespräch, Ruth, dann Abendschule. Eine eigene Welt kann sie sich heute nicht leisten.
Am Nachmittag habe ich bereits mein erstes Gespräch, erklärt sie.
Er gratuliert monoton und sagt: Ich trage Sie als Sekretärin in unser System ein.
Assistentin, korrigiert sie, bei meiner letzten Arbeitsstelle war ich Assistentin, ich hatte einen eigenen Aufgabenbereich und musste nur zur – Ich schreibe Sekretärin, beharrt er, und wie Sie das dann nennen, schnapsen Sie sich mit dem Arbeitgeber aus.
Ja, sagt Nora und unterschreibt ein Papier, das sich Betreuungsvereinbarung nennt.
Sind Ihre Freunde Akademiker?, war Ruth einmal gefragt worden. Nora hatte ihre Statistik gedrückt, aber vielleicht hatte Ruth sie auch verleugnet, für die Sache. Sie hatte nicht gefragt, sie hatte es nicht wissen wollen, die Stelle hatte Ruth jedenfalls nicht bekommen.
Und Sie meinen, die Schule ließen Sie hin und wieder sausen, so es die Arbeit verlangt?, zählt nicht, denn Nora hatte dem Personalchef mit Ja geantwortet, da es die Wahrheit ist.
Wenn sie etwas in diesem Bewerbungsgespräch finden will, das seltsam gewesen sein könnte, dann wären es die Minuten davor: Möchten Sie etwas trinken?
Gerne.
Da hinten steht ein Automat.
Sie hatte gestutzt. Dann war sie den Flur entlanggegangen und hatte sich eine Cola gedrückt. Der Automat nahm 0,20, 0,50, 1,00 und 2,00 Euro in Münzen. Sie hatte Geld aus der Börse gezählt und während des Gesprächs mehrmals mit der Kohlensäure gekämpft, doch immer gewonnen. Insgesamt hat sie ein gutes Gefühl.
Das hab ich ja noch nie erlebt, lacht Ruth, sie hat dich zum Getränkeautomaten geschickt?
Vielleicht war sie eine Aushilfe, fühlt Nora sich verpflichtet, die Frau in Schutz zu nehmen, doch Ruth lacht immer noch.
Nora greift in der Tasche nach den Zigaretten, die neben einer Packung Traubenzucker stecken, sie klappt die Lasche hoch, runter.
Und wie geht’s dir in der Abendschule?, will Ruth wissen, als sie endlich wieder zu Luft kommt.
Französische Revolution, 1789 bis 1799, antwortet Nora, von der Aufklärung sowie Unabhängigkeit Amerikas motiviert, werden Menschenrechte gefordert, Hauptziele sind eine Verfassung und eine Wirtschaftsreform sowie die Anschaffung von Staatskapital, um drohenden Staatsbankrott zu vermeiden.
Sieh an, sieh an, sagt Ruth, und was ist mit Olympe de Gouges?
Was ist damit?
Trau keiner Revolution, in der Olympe de Gouges nicht vorkommt, sagt Ruth.
Nora nickt und Ruth gurgelt mit ihrem Soda. Am Nebentisch rubbelt eine Frau einem kleinen Chinesen mit ihrem Finger übers Kinn, den Finger hat sie zuvor in ihren Mund getaucht, Nora hat es genau gesehen. Neben dem Chinesen, den sie an seinen geschminkten Schlitzaugen erkennen soll, sitzt seine Schwester, die als Prinzessin geht, Nora erkennt es am Krönchen auf ihrem Kopf. Dreht sie den Kopf, glitzert es im Licht des Restaurants. In der Abendschule übernimmt Napoleon.
Nora verdreht die Augen, als Anton sich umdreht und im Wohnzimmer verschwindet. In der Wohnung eine helle Stimme.
Hallo, sagt sie in seinen Rücken hinein und meint das Mädchen, das im Wohnzimmer steht. Nora hat noch immer nicht gelernt sie zu mögen, und Mögenwollen verläuft nie nach Plan.
Das Mädchen sitzt auf ihrem Thron. Die Beine, in schwarzen Strumpfhosen und Lackschuhen, übereinandergeschlagen. Muss sie von ihrer Mutter haben, denkt Nora. Ihre Arme auf den Lehnen, nur ein Szepter fehlt, und das Kleid aus Spitze.
Wie hübsch du wieder bist, lobt Nora und weiß, Anton hat wieder einmal klein beigegeben, denn Schuhe in der Wohnung sind verboten. Maresa mag Komplimente. Maresa mag Komplimente für Mädchen. Seinem Kind näherkommen, denkt sie, und damit Anton näherkommen, wie ein Geschäft. Maresa bedankt sich artig. Viel näher fühlt sie sich dem Mädchen nicht. Antons Hand legt sich auf den Kopf seiner Tochter.
Wir werden sehen, führt er ein Gespräch weiter, dessen Anfang Nora verpasst hat. Doch Anton liebt nur sie, denkt sie, und zum Beweis küsst sie ihn auf seinen Mund, der Kuss schnalzt, Anton lächelt.
Aber ich mag Hamster doch so gern, unterbricht Maresa und meint es als Beteuerung.
Anton seufzt. Nora grinst und trägt ihr Gesicht in die Küche, um es zu verstecken. Auf dem Herd blubbert es und spritzt. Nora möchte ihre Hände über dem Kochtopf reiben und hässlich lachen.
Du weißt ja noch nicht einmal, wo du den Käfig hinstellen würdest, hört sie Anton beim Versuch, es seiner Tochter auszureden.
Kurz ist es still. Das Mädchen denkt nach. Nora kann sie vor sich sehen, wie sie die Unterlippe nach vorne schiebt dabei. Sie nimmt den Löffel und kostet, ein wenig versalzen, das freut sie.
Also, beginnt Maresa, ich brauche einen Platz, wo zwei Türen offen sind.
Es klingt wichtig.
Damit der Hamster viel Spaß hat, fügt sie hinzu.
Es klingt wichtig, aber Nora versteht es nicht. Das ist so bei Kindern. Nora weiß, Maresa ist ein spezielles Kind, Antons Kind. Sie nimmt die Teller, die Anton vorbereitet hat, und trägt sie zum Tisch.
Magst du mir helfen?, fragt sie Maresa, um sie abzulenken, sie kann sehen, wie Anton weichgeklopft wird, und hört bereits den Hamster in den Nächten seine Runden drehen.
Nein, ruft die Königin und rennt zu ihrer Puppe, die zwischen bunten Kleidern auf dem Boden liegt, ein Bein steht unnatürlich vom Plastikkörper ab, wie am Tatort auf einer Abbildung in einer Zeitung, der schwarze Balken über den Augen fehlt.
Maresa!
Nora mag, wenn Anton streng wird.
Schon gut, sagt Nora und versucht sich an einem ehrlichen Lächeln.
Maresa sitzt breitbeinig am Boden und schält die Puppe aus ihrer kleinen Jacke, sie hat Mühe mit den steifen Armen.
Als Anton zu masturbieren begann, hatte er sich aus seiner Kleidung eine Puppe gebaut. Er hatte die Hose ausgestopft und den Pullover und die so entstandene Figur auf sein Bett gelegt und sich daran gerieben. Wenn man so etwas weiß, kennt man diesen Menschen, denkt Nora, im Vorbeigehen küsst sie Antons Hand, die nachdenklich sein Kinn hält.
Wer ist Olympe de Gouges?, fragt sie, während sie den Tisch deckt.
Frühe Frauenrechtlerin, sagt Anton, den Suppentopf in Händen, enthauptet während der Französischen Revolution, weil sie zu viel gefordert hat.
Sie mag ihn dafür, dass er so etwas weiß.
Warum?, fragt er.
Enthaupten klingt so schön, sagt Nora, ohne darauf einzugehen.
Was ist enthaupten?, fragt die Königin, und Anton erklärt es ihr auf eine Art, die nicht wehtut.
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!