Geboren 1974 in Hamburg, lebt in Hamburg. Sie wollte Kosmonautin werden, hat Fallschirmspringen gelernt und in Bern Schauspiel studiert.
Karen Köhler ist leider kurz vor dem Bachmann-Wettlesen erkrankt und darf nicht am Bewerb teilnehmen.

Wir möchten einerseits aber nicht auf den Text verzichten und andererseits ihr auf diesem Wege alles Gute und rasche Genesung wünschen. Liebe Grüße aus Klagenfurt

Karen Köhler, Hamburg (D) Sie liest auf Einladung von Hubert Winkels. Seite der Autorin beim ORF Kärnten.

Mit freundlicher Unterstützung vom ORF Kärnten

Il Comandante

Jetzt. Also Samstag. Samstag, der 2. Juni.

Keiner da. Das ist gut. Ich ziehe mir die Perücke vom Kopf, nehme gleich alle Steine aus der Schale und befülle die Perücke damit, steige auf die runde Holzbühne, hocke mich vor den Altar und lege den Perückensteinbeutel vor mich hin. Nicht nur ein Stein, sondern ein ganzes Nest der Schwere. Hole mein Telefon raus und fotografiere das Nest mit einer Polaroid-App. Ich klicke: Nachrichten. Klicke: Cesar. Klicke auf das kleine Fotosymbol. Lade das Bild und schreibe: I even did my hair for you. I hope they serve Banana Split in heaven. Klicke: Senden. Mache dann Musik an. Interpret: Buena Vista Social Club. Volle Lautstärke Hasta Siempre Comandante.

Der Montag davor

Kehlmann schlägt die Bettdecke von meinem Bauch und zieht sich Einweggummihandschuhe an.

»Wie geht es uns heute?«

Ich hebe das T-Shirt. Wir gucken auf den Beutel. Mitten in meinem Bauch ist neuerdings ein Loch. Über dem Loch klebt die Platte,an der Platte ist eine Öffnung mit einem Verschluss, und daran hängt der Beutel. In dem Beutel ist meine Scheiße. Das ganze heißt Stoma. Künstlicher Darmausgang. Den habe ich seit vier Tagen. Seit 29 Tagen habe ich eine Glatze, genauer gesagt habe ich mittlerweile gar keine Haare mehr am Körper. Seit zwei Tagen hat sich Tom nicht mehr gemeldet. Ich bin 33 Jahre alt und habe Krebs. Wiesollsunsdennheuteschongehen.

»Kommen Sie mit dem Stoma zurecht?« Ich nicke. Kehlmann entfernt den Beutel, in dem sich mein Frühstück befindet, eine Pampe aus Tee und Apfel. Ein Geruch, an den ich mich noch immer nicht gewöhnt habe, breitet sich aus. Kehlmann betupft und säubert mit der freien Hand die Öffnung. »Ahh. Das sieht doch wunderbar aus, das ist sehr gut verheilt«, sagt er, während er den kleinen roten Mund in meinem Bauch untersucht. Ein Stückchen Dünndarm schaut da heraus, vernäht zu einer Öffnung. Mich ekelt dieser Schlund.

»Vertragen Sie den Kleber von der Platte?«

»Glaub schon.«

»Kein Juckreiz?«

»Nö.«

»Das ist gut. Unsere Stoma-Therapeutin wird Ihnen zeigen, wie Sie in den nächsten Monaten selbständig alles wechseln können.«

»Das hat sie schon.«

»Achso. Ja. Wenn Sie entlassen werden, kommt sie zu Ihnen nach Hause und versorgt Sie mit Utensilien.«

Doktor Kehlmann geht zum Waschbecken und entleert den Beutel. Ich stelle mir vor, wie die Stoma-Therapeutin bei Tom und mir zu Hause auf dem Sofa sitzt und uns wie ein Staubsaugervertreter Beutel und Platten andreht.

»Das wird schon. Übung macht den Meister. In ein paar Monaten sind Sie ein Profi. Den werden Sie gar nicht mehr loswerden wollen …« Kehlmann klickt gekonnt den Beutel an den Verschluss. Hinter ihm schieben sich wilde Wolken durch Fensterrahmen

 

Ich will darin kein Profi werden. Ich will meinen alten Bauch zurück. Ohne Loch. Ich will meine Wimpern zurück, meine Augenbrauen und meine langen Haare. Ich will, dass Tom neben mir liegt und ich mich einrolle.

 

Kehlmann blättert in der mitgebrachten Kartei, macht Notizen und sagt, man habe jetzt den Befund von den Lymphknoten. Diagnose pT3pN2. Das bedeute, dass man über weitere Therapien nachdenken müsse, er werde mit mir noch für diese Woche einen Termin vereinbaren, damit wir alles genau besprechen können. Zunächst wolle er sich aber auf der Tumorkonferenz mit seinen Kollegen beraten. Das sei alles kein Grund, den Kopf …

Weitere Therapien, was für Therapien, wie kann das sein, dass da nach sechs Wochen Chemo jetzt noch was befallen ist, ich dachte, ich bin jetzt fertig, was kommt denn da noch, pT3pN2, warte mal, N2 bedeutet mehr als drei benachbarte Lymphknoten, das ist doch schlecht, oder nicht, ist auch mein Blut befallen, wird das wieder, warum sagt er denn nichts, was ist mit der Leber und der Bauchspeicheldrüse, was sagt er, FOLFOX, wieso FOX, wohin frisst sich das noch, was heißt denn weitere Therapien, wieso denn Plural, danach noch mal FU5, ambulant oder stationär, dafür bekomme ich einen Port über dem Herzen, was ist das, ein Port, ein Hafen, warte …

Doch bevor ich etwas sagen kann, ist er verschwunden, und ein Pferd galoppiert durch den Himmel.

Dienstag

Die Klinik heißt wie ein griechischer Gott. Ein hässliches, schmales, braunes Gebäude, dass gar nicht erst den Anspruch hat, gut auszusehen. Unverschämt und vollverglast steht es in der Stadtlandschaft herum. 21 Stockwerke hoch. Ich starre auf den braunen Klopper und versuche, mein Zimmerfenster auszumachen. Zum ersten Mal seit Wochen habe ich das Gebäude verlassen. Habe gestern eine neue Zimmernachbarin bekommen, die jede Menge Besuch am Start hat. Ehemann, Eltern, Schwester, Kinder, Freunde. Der Strom reißt da gar nicht ab. Deshalb bin ich jetzt hier unten am See. Obwohl, See … Teich. Besser: Tümpel. Sieben Enten und ein Fischreiher sonnen sich trotzdem darin. Rhododendron blüht. Bäume rauschen. Einige davon entladen ihre weißen Flusen in die Luft. Denke: Baumwolle.

Ich setze mich auf eine Bank am Ufer. Dann wische ich übers Glas. Entriegeln. Gebe den Code ein. Klicke auf Telefon. Anrufliste. Tom. Es tutet. Wieder nur die Mailbox. Ich versuche, zuversichtlich zu klingen.

Der Hubschrauberlandeplatz liegt bedrohlich auf einer Erhöhung neben dem See. Jederzeit kann hier was landen, ein Unfallopfer mit schwachem Puls oder eine Kühltasche mit den Organen eines Toten.

Der Fischreiher hebt unvermittelt ab. Ich lege auf.

Langsam schleppe ich mich wieder zum Haupteingang, drehe mich ins Gebäude, und biege, weil ich Durst habe, in das Krankenhauscafé ab, das den genialen Namen Café Bistro trägt. Ein Kundenfänger steht vorm Eingang. Schnitzel sind heute im Angebot.

Als die Bedienung an meinen Tisch kommt, bitte ich um ein Glas Leitungswasser.

»Mehr nicht?« Sie schaut mich an.

»Ich bezahle es meinetwegen auch«, sage ich.

»Schon gut«, sagt sie, »aber dass mir das nicht zur Gewohnheit wird.«

Ich schüttele den Kopf.

Das Krankenhaus-Café könnte sich auch in einem Hotel an der Ostsee befinden, das in den 90ern zuletzt renoviert wurde. Auf allen Tischen stehen weiße Vasen, in denen kleine Kunststraußgebinde stecken. Außer mir sitzen noch fünf weitere Gäste im Café.

Die Bedienung balanciert zwei Kuchenteller mit einer Hand, stellt mir im Vorbeigehen das Wasserglas auf den Tisch und flötet ein Bittesehr.

Dann sehe ich ihn: Ein älterer Mann kurvt im Rollstuhl herein. Eine Wollmütze thront auf seinem Kopf, unter der sich seine schwarzen Locken beulen, seine Augen verdeckt eine große Designer-Sonnenbrille. Er rollert ungeübt, aber zielstrebig auf einen Fenstertisch zu, ein Lächeln findet den Weg durch seinen grauen Rauschevollbart. Was lächelt der, er ist in einem Krankenhaus, warum hat der so gute Laune. Er überstrahlt alles, was ich in den letzten Wochen hier gesehen habe, ach Quatsch, er überstrahlt auch vieles außerhalb dieses Krankenhauses. Kann mich gar nicht sattsehen. Der kann doch gar nicht krank sein.

»Hello, my friend«, ruft ihm der Café Bistro-Chef zu.

»Buenos dias, amigo«, sagt er, schiebt umständlich einen Stuhl zur Seite und platziert sich aufwendig am Fensterplatz des Tisches. Rückwärts Einparken in siebenundzwanzig Zügen.

»What can you offer me today?« Seine Stimme ist wie ein Instrument, laut und tief.

»Fish and Pommes mit Salad?«, stümpert der Bistro-Chef.

»Pescado y patatas fritas, muy bien, Dankeschön«, sagt er und legt sein Smartphone auf den Tisch. An den Fingern der linken Hand stecken mehrere Goldringe, an seinen Ohrläppchen glitzern Steine.Er trägt etwas um den Hals, das wie ein Union Jack aussieht. Eine Wolldecke liegt über seinen Beinen, die in irgendeiner Jogginghose stecken. Obenrum: Ein ausgewaschenes helles T-Shirt. Er sieht in meine Richtung.

Nicht, dass hier vorher viel geredet wurde. Jetzt aber, jetzt schauen alle auf den Popstarparadiesvogelpatientenopa. Und er schaut mich mit seinen Popstarsonnenbrillenparadiesvogelaugen an. Ich versuche ein Lächeln.

Das war unsere erste Begegnung.

Mittwoch

Kehlmann redet nicht lang herum. In vier von sechzehn Lymphknoten wurden bösartige Tumorzellen gefunden, was bedeute, dass das Karzinom bereits gestreut habe und nun weitere Therapien mit Zytostatika anstünden. Man wolle ganz sichergehen, dass alle eventuell im Körper befindlichen Krebszellen abgetötet würden. Dazu sei auch ein stärkeres Medikament notwendig. Es wird eine ambulante Behandlung mit FOLFOX vorgeschlagen, und anschließend, nach einer Pause von drei Wochen, nochmals mit FU5, das ich ja bereits gut vertragen habe. Ambulant bedeute, dass man mir nun einen Port einpflanzen werde, das sei eine Art Andockstation, die über dem Herzen an eine Vene operiert würde, in die dann die Chemotherapien der nächsten Monate laufen werden. Die wöchentliche Dosis könne ich mir in einer Praxis in der Nähe abholen, das Medikament werde mit einer kleinen Pumpe an einem Gürtel um den Bauch getragen, ein Schlauch führe dann über eine Kanüle zum Port, von wo es dann kontinuierlich in den Körper gelange. Die Operation sei nächste Woche, der genaue Termin werde mir mitgeteilt. Der Port habe den enormen Vorteil, dass ich während der nächsten Monate ein weitgehend selbständiges Leben führen könne. In einem halben, dreiviertel Jahr sei ich damit spätestens durch. Bei günstiger Entwicklung der Heilung würde der künstliche Darmausgang wieder entfernt und eine Rückoperation des Darms durchgeführt werden.

Alles ist wie in Watte, als ich im Fahrstuhl nach unten fahre. Und weil ich mich verdrückt habe, fahre ich nach ganz unten. Ins UG. Das merke ich aber erst, als ich ausgestiegen bin und der Fahrstuhl wieder weg ist. Vor mir tut sich ein schmuddeliger Gang auf. Ein Schild weist links den Weg zum Bettenlager. O ja. Da will ich hin. Unbedingt. Ich bin so müde. Ich folge den Schildern, bis ich in einem großen Raum voller leerer Krankenhausbetten stehe, die nicht bezogen sind. Ich lege mich in eines, von dem ich glaube, dass es unbestorben ist.

 

Ein Pfleger weckt mich. »Was machen Sie denn hier? Hier können Sie nicht schlafen.« Ich sammle mich zusammen und verschwinde.

Mein Blick wandert zwischen den sechs Fahrstühlen hin und her und bleibt an dem Wort Kapelle hängen. Das Schild zeigt nach rechts und ich folge ihm, weil ich nicht glauben kann, dass hier unten irgendwo eine Kapelle sein soll.

Aber doch: Gottesdienst nächsten Sonntag um 10:15 Uhr.

 

Hinter dem Altar sind Seile von der Decke zum Boden gespannt, an denen Goldquadrate befestigt sind, die in unterschiedlichen Winkeln zueinander das Licht reflektieren. Ich zähle die Seile. 14. An jedem Seil sind 21 Goldplättchen. Macht 294. Ist das eine christliche Zahl? Ich will ein Foto machen und sehe, dass ich eine Nachricht erhalten habe.

Gib mir Zeit. Tom

 

Ich fotografiere wirr herum. Kerze. Klick. Altar. Klick. Decke. Klick. Orgel. Klick. Der Raum Klickklickklick. Pfingstrosen. Bibel. Klickklick. Ein Relief an der Wand zeigt einen Kranken, der am Boden liegt und einen Gesunden, der ihm aufhilft. Nur sieht es eben so aus, als würde der Gesunde den Kranken runterdrücken. Klick.

Neben einer Schale mit Steinen auf einem Tisch liegen Gebrauchsanweisungszettel.

 

Einladung zur Begegnung mit Gott.

Haben Sie Kummer? Sorgen? Ist Ihr Herz schwer?

Nehmen Sie sich einen Stein aus der Schale, lassen Sie ihren Schmerz und Ihre Angst, alles, was Sie beschwert, aus sich heraus und in den Stein hineinfließen. Gott trägt Ihre Last gern für Sie. Er kann Ihnen dabei helfen, leichter zu werden. Legen Sie Ihren »Stein der Schwere« in die Schale auf den Altar. Beim nächsten Gottesdienst wird für jeden in der Schale liegenden Stein eine Fürbitte gesprochen werden.

Haben Sie einen Wunsch? Nehmen Sie sich einen der Zettel, einen Augenblick Zeit und schreiben Sie Ihren Wunsch auf. Gottes Ohren sind offen. Auch für Sie.

 

Ich glaube ja nicht an so was, also dass das irgendwas bringt, nehme aber trotzdem Stein, Zettel und Stift und setze mich auf die Holzbühne vor den Altar. Ich packe meinen Beutel in den Stein. Meine Scheiße. Meine Angst. Den ganzen Krebs. Ich packe Toms Unsicherheit in den Stein. Meine Trauer. Meine verlorenen Wimpern. Ich presse und drücke alles Schlechte in den Stein. Dann schreibe ich LIEBE auf den Zettel, falte ihn zweimal und denke, dass das blöd war, dass ich mir lieber Gesundheit hätte wünschen sollen. Ich trete an den Altar, lege Zettel und Stein in die Schale, und betrachte danach die aufgeschlagene Seite in der Bibel. Johannes 21.1 Die Erscheinung des Auferstandenen am See.

See, denke ich.

Natürlich sitzt er da. Er sitzt da am Ufer, in der Sonne, mit dem Kopf im Nacken und weit geöffnetem Mund. Der Paradiesvogelpopstarsonnenbrillenopa im Rollstuhl. Sieht aus, als schicke er einen stummen Schrei in den Himmel. Diesmal trägt er eine Art Kapitänsmütze, ansonsten ist die Verkleidung wie gestern. Nur ist der Union Jack ein Sternenbanner, wie ich jetzt erkennen kann.

»Hello«, sagt er, als ich an ihm vorbeigehen will.

»Hello«, sage ich und bleibe stehen.

»Hola, beautiful Donna, come va? It is such a nice day, si? Why don’t you take a piccolo Pause? Would you like to sit on the bench?«

Warum nicht.

»Why not«, sage ich.

»Hablas Espanol?«

»Nö«, sage ich. »I don’t speak Spanisch. But a little Italian. Posso parlare un po italiano.«

»Italiano, muy bien. Boungiorno.«

»You want me to push you?«, frage ich und will schon hinter seinen Rollstuhl greifen, um ihn anzuschieben, aber er legt den Kopf schräg und fragt, ob ich verrückt sei, dann arbeitet er sich an den Rädern des Rollstuhls ab, bugsiert sich neben die Bank und macht wieder diesen stummen Sonnenschrei. Er sagt: »Ohhh it’s so good, the sun.«

»What are you doing?«

»I am drinking the sunlinght.«

»What?«

»Try it. This is good, Baby.«

Mir ist alles egal, ich reiße meinen Schnabel auf, und, tatsächlich, es fühlt sich gut an, wie die Sonne meinen Mund von innen wärmt.

»Good, ehm?«

»Gnhm.«

»Baby, can you feel it?«

»I can feel Kiefernstarre«, sage ich nach einer Weile.

»Yeah.«

Wir fangen an zu lachen, es schüttelt uns , immer heftiger werden die Salven, wir krümmen uns, meine Bauchmuskeln tun weh und die Narbe schmerzt, und trotzdem reißen wir immer wieder unsere Münder auf, um Sonne zu trinken, bis bei mir Tränen laufen und mein Lachen in ein Weinen übergeht.

Als es vorbei ist, hängt Rotze aus meiner Nase und ist in meinem ganzen Gesicht verteilt. Er gibt mir ein Taschentuch. Das nicht ausreicht. Und noch eines.

»Why are you so sad, Baby?«

Warum ich traurig bin. Sehr witzig.

»I have cancer.«

»Yeah, I can see that.«

»I might die«, versuche ich. Aber er lacht nur sein Donnergrollenlachen.

»You will die for sure, Baby. We all will… My name ist Cesar, and I am happy to have met you before you died.«

Eine Stunde später schiebe ich meinen neuen Freund zu Musik aus seinem Smartphone, Love’s Theme von Barry White, zurück zum Haupteingang. Inzwischen weiß ich, dass er Sohn einer Kolumbianerin und eines Amerikaners ist und in Kuba geboren wurde, weshalb ich ihn Comandante nenne. Ich weiß auch, dass er in New York und in San Francisco gelebt hat. Dass er zweimal verheiratet war, und dass seine zweite Frau vor vier Jahren gestorben ist. Der Comandante ist 72 Jahre alt und wird seit zwei Wochen hier im Krankenhaus behandelt, dies ist sein erster Krankenhausaufenthalt überhaupt. Sein Bett ist auf Station 12, Zimmer 5. Wir haben Handynummern ausgetauscht. Jetzt wollen wir Eis essen.

Ich kutschiere ihn zu seinem Fenstertisch, der gerade frei wird, sage, ich käme gleich wieder und zeige in Richtung der Toiletten. Auf dem Klo knie ich mich vor die Schüssel, schraube den Verschluss vom Beutel auf und lasse den Inhalt ablaufen, ist nicht viel drin, aber ich will sichergehen.

Als ich wieder am Tisch ankomme, stehen da zwei Banana-Split-Eisvariationen bereit und Cesar hat schon den Löffel in der Hand.

»My favourite!«, sagt er und fällt über das Eis her.

Donnerstag

Habe den ganzen Vormittag geschlafen, war von gestern sehr erschöpft. Eigentlich soll ich noch gar nicht so viel sitzen, geschweige denn Rollstühle herumschieben.

»Sie haben das Mittagessen ja gar nicht angerührt«, siezt mich meine Lieblingsschwester. »Das ist jetzt der dritte Tag ohne Mittagessen und Abendbrot. Von Tee und einem Apfel am Tag werden Sie nicht wieder fit.«

»Ich weiß«, sage ich, »an apple a day keeps Kehlmann away.« Sie lacht und fragt: »Was gab es denn heute?«

»Weiß nicht, hab nicht reingeschaut.«

Meine Lieblingsschwester ist meine Lieblingsschwester, weil sie daraufhin den Plastikdeckel vom Teller anhebt, die Mundwinkel nach unten zieht und meint: »Nix verpasst, würd ich sagen.« Dann räumt sie das Tablett weg und kommt mit einem Schokoriegel wieder.

»Du brauchst Kraft. Iss das hier wenigstens.«

Ich nicke und packe den Riegel aus, sie winkt mir zu und schließt leise die Tür. Ich beiße ab, obwohl mir Essen seit kurzem zuwider ist. Davon beult sich der Beutel so aus, man sieht alles, kann genau erraten, was es war, eine bunte Pampe, manchmal auch noch mit Luft vermischt. Dafür furze ich jetzt nicht mehr.

 

Ich kann verstehen, wenn Tom mich nicht mehr will. Stelle mir vor, dass er heimlich ausgezogen ist, dass er mit Sack und Pack aus der Wohnung raus ist, weil er es nicht mehr aushält mit mir. Weil ich jetzt hässlich, krank und bedürftig geworden bin. Ich stelle mir vor, wie er seinem besten Freund sagt, dass das nicht mehr geht mit uns. Runterschlucken. So. Schokoriegel ist im Bauch, bald im Beutel.

Dingding. Nachricht vom Comandante.

Ready for Nachtisch? Cesar

Si, Comandante. I need a coffee. Meet you in 10 minutes @ café-bistro?

Yeah, Baby.

Als ich zehn Minuten später pünktlich im Krankenhaus-Café stehe, sitzt Cesar schon an seinem Fensterplatz. Wie macht er das nur. Alle anderen Tische sind belegt. Wie stellt er es an, dass er immer am selben Platz landet.

»Hello, my sweetheart«, sagt er und hebt zur Begrüßung seine Kapitänsmütze.

»Captain, my Captain«, sage ich und setze mich ihm gegenüber.

Der Bistro-Chef bringt ein Banana-Split-Eis und stellt es vor Cesar ab, der sich die Hände reibt. Das gibt’s doch nicht. Der haut jeden Tag so nen Becher weg, oder wie.

»Por favor, Señor Cesar.«

»Gracias.«

»De nada. Und für die Dame?«

»Ich nehme einen Espresso.«

»Kommt sofort.«

»How are you today, sweetheart?«

»Okayisch. And you?«

»I am happy«, sagt der Comandante und lächelt in seinen Bart.

Dingding. Nachricht von Tom.

»Fucking hell, I love this shit«, Cesar löffelt Sahne in sich rein.

Ich komme am Samstag. Wie geht es dir? Tom

Wie es mir geht, passt nicht in eine Kurznachricht.

Cesar guckt mich an.

»Bad news?«

»No. Good news.«

»Why are you sad then?«

»Soo. Der Espresso für die Dame.«

»Danke.«

»Gracias.«

»Bittesehr.«

»I am not sad, I am mad with my boyfriend.«

»Why?«

»He did not show up for a while. «

Und dann will der Comandante alles wissen, wie mein Freund heißt, was er macht, seit wann wir ein Paar sind, wie lange wir schon zusammenwohnen. Ich erzähle, dass er sich fünf Tage nicht hat blicken lassen, und dass ich eine Scheißangst habe, dass er mich verlässt wegen dem Krebs und dem Beutel, und dass ich jetzt hässlich bin und denke, er suche sich genau in diesem Augenblick eine andere, gesunde, beutellose, schöne und bessere Freundin. Und der Comandante sagt, dass das sicher auch für Tom alles nicht einfach sei, und fragt, ob ich Fotos von uns habe. Klar, in meinem Telefon stapeln sie sich, tausendfach. Ich zeige ihm welche aus dem Urlaub im letzten Jahr. Da waren wir auf Kreta. Tom in einer Taverne mit Ouzoglas vor sich. Tom beim Lesen. Eine Verpackung von griechischem Zucker. Meine Füße im Meer. Tom und ich auf einer Fähre, meine Haare wehen, wir sind glücklich. Ich im Bikini auf einem Felsen. Eine Blüte. Ich mit einem Eis am Stil. Tom neben einem Esel.

»He’s coming on saturday«, sage ich.

»Tell him, you are happy to see him soon. Just do it.«

Aye, aye, Captain. Ich tippe artig freue mich darauf, dich zu sehen ein und klicke Senden.

»Man! You are a very pretty woman.«

»Not anymore.«

»Your hair will grow back.«

»Don’t know. I’m going to get more chemical treatment.«

»You will be alright.«

Aber ich weiß nicht, ob ich alright sein werde.

»Look at me«, sage ich, und ziehe mein Kopftuch ab, und es ist mir jetzt scheißegal, dass wir in einem Restaurant sind und Cesar gerade einen Eisbecher vor sich hat, ich hebe auch noch meinen Pullover an und zeige den Beutel. Und dann will ich von Cesar wissen, ob er sich vorstellen kann, mit einer Frau Liebe zu machen, die keine Haare am Leib und so einen Beutel am Bauch hat.

Er schweigt. Ich trinke meinen Espresso aus.

 

»You see«, sage ich.

»Wait«, sagt er und winkt dem Chef. »Zahlen, bitte.« Als er das erledigt hat, parkt er aus.

»Vamos! Pronto, pronto!« Cesar rollt durch die Eingangshalle am Informationsstand vorbei, rollt weiter, am Briefkasten und an den Automaten vorbei, er passiert den Kiosk, biegt dahinter links ab, direkt zum Friseurladen mit den Perücken. Schwupps ist er im Laden drin.

»No! Cesar, no!«

»Just try one.«

»Cesar, Scheiße, ich will keine Perücke, das kratzt, it’s itchy, und look, they are all very, very ugly. Das sind Omaperücken. You understand. Grandmastyle.«

»Guten Tag, kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragt die Verkäuferin.

»Wir suchen eine Haare«, sagt Cesar »but schöne Haare, not Omafrisur for this Lady.«

Die Verkäuferin hebt eine Augenbraue, dann sieht sie mich an und fragt: »Welche Länge darfs denn sein?«

»Halblang«, sage ich, und der Comandante lächelt.

Wir haben uns für einen dunkelbraunen Bob mit Pony entschieden. Das sieht zwar nach Perücke aus, ist es ja aber auch. Der Comandante meint, ich sähe aus wie Uma Thurman in Pulp Fiction. Wir sitzen draußen im Schatten einer Pappel auf einer Bank unten am See, ich mit neuen Haaren, und suchen etwas Schickes zum Anziehen für mein Date mit Tom am Samstag. Wir schauen beide in unsere Telefone und klicken uns durch Kleider und Schuhe. Cesar schlägt mir aus Spaß eine Art pinkfarbene Leberwurst vor.

»That’ll do.« Wir kichern.

 

Endlich habe ich ein Sommerkleid gefunden, das mir gefällt und das weit genug ist, um den Beutel zu vertuschen und trotzdem nicht wie ein Sack aussieht.

»Yeah, Baby.«

Ich klicke auf In den Einkaufswagen legen. Jetzt brauche ich noch Schuhe. Ich wähle einfarbige Ballerinas, zack, ab in den Einkaufswagen. Noch was?

»Some Make-up, maybe?«

»Bingo, sweetheart.«

Ich klicke auf einen Eyeliner, Wimperntusche, klicke die wieder weg, Wimpen, haha, erklicke mir Lidschatten und einen knallroten Lippenstift. Jetzt bezahlen. Ich wähle Overnight Express, gebe als Lieferadresse das Krankenhaus mit Station und Zimmernummer an. Fertig. Wir strahlen.

»I love the Internet«, sagt Cesar und holt einen Joint aus seinem Hipbag. »Do you smoke?«

Der Himmel ist blau. Das Gras ist grün. Die Sonne scheint. Ich nicke und mache ein Foto von uns.

Freitag

Meine Lieblingsschwester bringt das Frühstück und die Medikamente.

»Wow. Steht dir!«

»Danke«, ich schüttele meinen Uma-Thurman-Kopf.

»Die OP für den Port ist Montagmorgen um acht Uhr, Doktor Kehlmann kommt gleich zur Visite und wird das auch noch mal mitteilen. Was haben wir denn hier, Brei, Tee und einen Apfel. Wenn ich zum Abräumen wiederkomme, ist das Tablett leer, haben wir uns verstanden?«

»Jep.«

»Da hat jemand ja zur Abwechselung mal gute Laune, Halleluja! Das muss an deinem neuen Freund liegen«, sagt sie und bringt meiner Zimmernachbarin ihr Frühstück, das ebenfalls aus Brei und Tee besteht. Magenkrebs.

»Neuer Freund?«, frage ich.

»Erzählt man sich so«, sagt sie und zwinkert ihr Zwinkern.

Nachdem ich das Frühstück verputzt habe, kommt Kehlmann. Er bestaunt meine Perücke, begutachtet den Heilungsprozess der Narbe und bespricht mit mir die anstehende OP. Er sagt, so gefalle ich ihm besser, so ein Kampfgeist sei wichtig bei einer Krankheit wie Krebs. Dann ist meine Nachbarin dran. Ich mache mir Ohrenstöpsel rein, lasse die Musik in meinen Kopf und meinen Blick aus dem Fenster.

Eine Playlist später wische ich übers Telefon, gebe den Code ein, klicke Nachrichten, klicke auf Cesar und tippe Hola Comandante, would you like to go to church with me?

Es dauert ein paar Minuten, dann macht es Dingding.

Church?

Pick u up in 10 minutes.

Okay, sweetheart.

Ich ziehe den Vorhang um mich herum und wasche mich notdürftig am Waschbecken, leere den Beutel aus, spüle das Becken sauber, putze meine Zähne, rolle mir Deo unter die Arme und werfe mir meine Krankenhaustracht wieder über: T-Shirt und Sweatshirt von Tom, Leggings von mir. Frisur hält. Los geht’s.

 

Der Comandante sitzt mit dem Rücken zur Tür und schaut aus dem Fenster, als ich das Zimmer betrete. Irgendwas ist anders, aber ich weiß nicht, was. Kapitänsmütze sitzt. Neonsocken leuchten. Goldreifen klimpern an seinen Armen.

»Are you okay?«, frage ich.

»Yes, very much okay. Muy bien. Alles gut.«, sagt er und dreht sich um.

»Let’s go then.«

Ich schnappe mir den Rollstuhl, und er fragt, wohin wir gehen. »In die Kirche, hab ich doch gesagt.« Er lacht. Dass sich im Untergeschoss des Krankenhauses nicht nur das Bettenlager, sondern auch eine kleine Kirche befinden soll, hält er für ausgemachten Unsinn. Kellerkirche. Er denkt, ich verarsche ihn. Als wir dann aber vor dem Eingang stehen, ist er still. Und als ich ihn in die Mitte des Raumes geschoben habe, füllen sich seine Augen mit Tränen.

»Beautiful. Very beautiful. Thank you.«

Dann erkläre ich ihm das mit den Steinen und den Zetteln und er will auch unbedingt beides. Er sitzt da, hochkonzentriert, presst mit seinen Händen den von ihm ausgesuchten Stein. Dann schreibt er mit wackeliger Hand Muchas Gracias auf einen Zettel und ich lege beides für ihn in die Schale auf dem Altar, da kommt er ja nicht hin mit dem Rollstuhl. In der Schale liegen bisher einzig mein Zettel und mein Stein.

Am Ausgang schreiben wir einen Dankesgruß ins Gästebuch und blättern uns durch die Seiten. Ich übersetze ihm die Einträge. Viele bitten um Heilung. Manche haben jemanden verloren. Uns berührt die Nachricht eines Paares, deren Baby kurz nach der Geburt starb. Zum Glück hat Cesar wieder Taschentücher mit.

»Do you have children?«, frage ich ihn.

»No«, antwortet er traurig.

 

Der Kundenstopper verrät uns, dass heute schon wieder der Schnitzelteller im Angebot ist. Unser Tisch ist frei, wir beginnen mit der Belagerung, kennen die Karte auswendig und bestellen für mich Salat und für Cesar Fischfilet mit Pommes. Zum Nachtisch ein Banana Split und einen Espresso. Danach ab auf meine Station, wir wollen wissen, ob das Päckchen angekommen ist. Ich soll am Abend noch mal fragen. Wir beschließen einen Verdauungsschlaf und einen Spaziergang zum See am Nachmittag.

Samstag, der 2. Juni

Bin früh aufgewacht. Habe mich gewaschen und das neue Kleid angezogen, noch bevor die Frühstückstabletts kamen. Habe die Perücke gekämmt, mir die Lippen rot angemalt und trage die Ballerinas an den Füßen. Das muss ich unbedingt dem Comandante zeigen. Ich ziehe an der Strippe, gehe zum Fahrstuhl, zwei Pfleger, die mich kennen, kommen mir entgegen und sagen WOW, ich lächle und fahre runter zur Station 12.

 

Ich öffne die Tür zu seinem Zimmer und setze ein strahlendes Lächeln auf, das sofort zusammenfällt, als ich sehe, dass da kein Bett mehr steht. Hab mich wohl in der Tür, nein hab ich nicht. Wo ist denn der Comandante hin? Telefon entriegeln. Code eingeben. Telefon. Kontakte. C wie Cesar. Anrufen. Geht nicht ran.

Ins Schwesternzimmer. Hallo, ich suche den Patienten von Zimmer 5. Komplikationen. Verlegt? Wohin? Intensivstation. Intensivstation, ja, 15A. Strippe ziehen. Türenschwenken. Fahrstuhl, verdammt, warum kommt den ausgerechnet jetzt keiner, Entschuldigung, können Sie mir bitte sagen, was mit Cesar ist, dem alten Mann mit den Neonsocken? Ob ich eine Verwandte sei, ja, nein, dann nicht. Aber er hat doch sonst niemanden, brülle ich. Das Herz hat nicht mehr mitgemacht. Was? Nein. Das kann nicht sein. Der kann doch nicht. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Gestern haben wir doch noch am See gesessen und Candela aus seinem Telefon gehört. Tot, der Comandante? Nein. Niemals. Man bittet mich zu gehen. Blätter rauschen in meinem Kopf, ein ganzer Wald rauscht und Schlangen winden sich in meinem Hals.

Klackklack. Strippe. Tür. Fahrstuhl. Dingding. Nachricht von Tom: Wo bist du?

Tom und ich biegen um die Kurve. Er hält meine Hand. Keiner da. Das ist gut. Ich ziehe mir die Perücke vom Kopf, nehme gleich alle Steine aus der Schale, und befülle die Perücke damit, steige auf die runde Holzbühne, hocke mich vor den Altar und lege den Perückensteinbeutel vor mich hin. Nicht nur ein Stein, sondern ein ganzes Nest der Schwere. Hole mein Telefon raus und fotografiere das Nest mit einer Polaroid-App. Ich klicke: Nachrichten. Klicke: Cesar. Klicke auf das kleine Fotosymbol. Lade das Bild und schreibe: I even did my hair for you. I hope they serve Banana Split in heaven. Klicke: Senden. Mache dann Musik an. Interpret: Buena Vista Social Club. Volle Lautstärke Hasta Siempre Comandante. Für immer. Augen zu.